Am 17. März 2021, 9 Uhr
Digital und Live aus dem Wälderhaus in Hamburg
3, 2, 1 ... wir gehen Live! Punkt 9 Uhr startete am 17. März 2021 (aus dem Wälderhaus in Hamburg) die erste rein virtuelle überregionale Veranstaltung der DVWG. Die Entscheidung hin zur Durchführung dieses Veranstaltungsformates wurde von den aktuellen Lockdownbestimmungen maßgeblich beeinflusst. Gleich- zeitig jedoch wird deutlich, dass diese digitalen Veranstaltungsformate derzeit eine gute Möglichkeit darstellen, der interessierten Fachöffentlichkeit weiterhin eine geeignete Informations- und Austauschmöglichkeit zu aktuellen Verkehrsthemen zu bieten.
So bestimmte auch das Thema Corona inhaltlich den DVWG-Fachkongress. Kaum ein Thema beschäftigt uns alle derzeit intensiver. Aus diesem Grund fiel der Entschluss, gemeinsam mit dem BMVI als Förderträger dieser Problemstellung vor dem Hintergrund relevanter Fragen im Verkehrs- und Mobilitätssektor ein gesondertes Veranstaltungsformat zu widmen. ExpertInnen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik kamen daher virtuell zusammen, zu diskutieren, welche Lockdown Lessons Corona für den digitalen Transformationsprozess in der Mobilität hervorgebracht hat.
Nach der einleitenden Anmoderation durch DVWG-Präsident Jan Ninnemann und Präsidiumsmitglied Kerstin Rosenberger erfolgte eine Einleitung in die Kongressthematik durch Prof. Gernot Liedtke (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt), der gleichzeitig als wissenschaftlicher Leiter der Veranstaltung fungierte.
In seinem Vortrag erläuterte Prof. Liedtke zunächst eine innovationsökonomische Perspektive auf das Thema Digitalisierung. Der digitale Transformationsprozess sei als wirtschaftlicher Prozess als eine Entwicklung mit verschiedenen „Aufs“ und „Abs“ nachvollziehbar. Anschließend lenkte er das Hauptaugenmerk der Veranstaltungsinhalte auf die konkreten Auswirkungen der Digitalisierung auf den Sektor Mobilität und Verkehr. Hier wurden und werden schon seit längerem neue Produkte für die Verbesserung von Ef- fizienz und Qualität von Dienstleistungen als Basistechnologien entwickelt. Zusätzlich sei auf einer weiteren Stufe die Entstehung von neuen Geschäftsmodellen wie bei Uber, Amazon oder Google zu verzeichnen. Das Auf- kommen neuer „Player“ führte zu gewissen Ruptionen und Verteilungskämpfen und damit letztlich auch zu breiten gesellschaftspolitischen Diskussionen. Weiterhin erläuterte Prof. Liedtke das Konzept plattformbasierter Geschäftsmodelle und wie diese funktionie- ren und gab schließlich einen Einblick auf die Auswirkung von Corona auf verschiedene Verkehrsträger. Hierbei erwähnte der Wis- senschaftler unter anderem Verbesserungsinnovationen, die in den Verkehr einzogen, die Entstehung digitaler Geschäftsmodelle, aber auch Änderungen bei Konsummustern, die Corona hervorbrachte. Prof. Liedtke konstatierte abschließend: „Viele Probleme sind noch nicht abschließend gelöst, Überraschungen durchaus möglich.“
Die darauf folgende Keynote aus dem Bundesministerium hielt Enak Ferlemann. Der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur sprach über Corona als Katalysator für den digitalen Transformationsprozess am Beispiel des „Reallabors Digitale Mobilität Hamburg“, welches ein zentrales und weg- weisendes Vorhaben in diesen Zusammen- hang als Pilotprojekt darstellt. Bis Ende 2021 stellt das vom BMVI initiierte Pilotprojekt einen Erprobungsraum in einem gemeinsamen Ökosystem in der Metropolregion Hamburg im gesamten Stadtgebiet, aber auch im Umland dar. Zentrales Ziel ist die Entwick- lung von breiten Handlungsempfehlungen auf Basis eines ganzheitlichen Ansatzes für einen umwelt- und klimagerechten Umgestaltungsprozess der Mobilitätssysteme.
Auf den Einführungsblock folgten drei Vortragsslots zu den besonderen Herausforderungen des Digitalisierungsprozesses unter den Bedingungen der aktuellen Corona-Krise. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln gingen die drei Referenten Marco F. Gennaro (Rhein- Main-Verkehrsverbund Servicegesellschaft mbH), Willem van der Schalk (hartrodt GmbH & Co. KG) und Dr. Markus Ksoll (Deutsche Bahn) insbesondere auf konkrete Auswirkungen der Pandemie für ihren Verkehrssektor und ihr Un- ternehmen ein und gaben umfangreiche konkrete Einblicke in die zukünftige Weiterentwicklung in den Bereichen ÖPNV, Güterverkehr und Logistik sowie Schienenverkehr.
Als erster Vortragender setzte sich Marco F. Gennaro in seinem Beitrag mit den konkreten Auswirkungen der Corona-Krise auf den ÖPNV im Rhein-Main-Verkehrsverbund auseinander. Herr Gennaro benannte dabei vorrangig spür- bare Auswirkungen mit Blick auf den Rückgang von Fahrgastzahlen und folglich Fahrgeldeinnahmen. Corona wirkte dabei tatsächlich als „Brennglas“ - Schwachstellen wurden schonungslos aufgedeckt – nicht zuletzt auch mit Blick auf den Digitalisierungsfortschritt des ÖPNV. Der Leiter im rms-Geschäftsbereich Fahrgastinformation und Digitale Vernetzung betrachtet die Digitalisierung in der Fläche als einen Erfolgsfaktor bei der Bewältigung des digitalen Transformationsprozesses unter den Bedingungen der Corona-Krise. In diesem Zusammenhang definierte Herr Gennaro konkrete Aufgaben und Ziele. So sei es notwendig, Transparenz zu schaffen und nachzuhalten, eine moderne technische Infrastruktur in der Fläche umzusetzen und vollständige und qualitativ hochwertige Datenversorgung der Systeme si- cherzustellen. Er betrachtet die intensive Digitalisierung im ÖPNV als entscheidend, denn sie ist Basis sowohl für Dienste in Richtung Kunde als auch für interne Prozesse und Hintergrundsysteme.
Im darauffolgenden Vortrag von Willem van der Schalk erfolgte ein Blick auf den Logistik- sektor. "Die Menschen bleiben das Rückgrat der Logistik!“, begann van der Schalk. Er gab zu be- denken, dass sich nicht alle Prozesse innerhalb der Logistikkette automatisieren und digitalisieren lassen. Digitale Prozesse sind in fast allen Logistikfirmen bereits vorhanden und haben in den vergangenen Jahren schon sehr gut die logistischen Abläufe beschleunigt, aber die eigentlichen mechanischen Abläufe nicht verändert. Die Komponenten sind gleichgeblieben und werden noch immer maßgeblich durch den Menschen mitbestimmt. Die Liefertermi- ne werden nicht mehr geschätzt, sondern in Abhängigkeit zum Produktionsfortschritt un- abhängig vom Verkehrsträger präzise ermittelt. Digitale Prozesse in der Logistik stehen noch immer den vielen überwiegend analo- gen Prozessen, in der sehr stark weltweit aus- geprägten mittelständigen Struktur von Unternehmen diametral gegenüber. Auch wenn rasante Automatisierungsfortschritte die Personalstruktur in der Branche neu definieren, werden Menschen das Rückgrat der Logistik bleiben, so der Logistiker. Disruptive Lieferketten seien, so van der Schalk, die gravierends- ten Auswirkungen der Corona-Krise auf den Bereich Güterverkehr und Logistik.
Zum Thema Schienenverkehr folgte ein Beitrag von Dr. Markus Ksoll. Er berichtet, die Deutsche Bahn habe auf breiter Basis auf die Einschränkungen und Herausforderungen der Krise reagiert. Insbesondere die Umstellung auf digitale Prozesse in den Bereichen Schienenpersonenfernverkehr, Schienenpersonen- nahverkehr, Schienengüterverkehr, Zugpersonal merkt Ksoll in diesem Zusammenhang an. Die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie und des Lockdowns seien jedoch, so Ksoll, durchaus spürbar und gravierend. Nach der Krise wird aus seiner Sicht der Klimaschutz erneut zu einer zentralen gesellschaftlichen Herausforderung zählen. Die Digitalisierungsbestrebungen in allen Verkehrsbereichen des Bahnverkehrs werden trotz Kriseneinschränkungen mit großem Engagement weiter kontinuierlich vorangetrieben. Er nannte in diesem Kontext „Die Digitale Schiene Deutschland“ als ein zentrales Impulsprojekt.
Nach einer Mittagspause ging es weiter mit einem Expertendialog zwischen Prof. Henning Vöpel (Hamburgisches Weltwirtschaftsinstitut) und Prof. Jan Ninnemann (HTC Consultancy). In diesem Teil der Veranstaltung wurde die gesamtwirtschaftliche Perspektive von Digitalisierung unter den Bedingungen der Corona-Pandemie thematisiert. Die beiden Diskutanten vergegenwärtigten gemeinsam die aktuelle Situation, diskutier- ten den Zusammenhang von Digitalisierung und Corona und die Frage, ob die Pandemie tatsächlich als Katalysator für den digitalen Transformationsprozess betrachtet werden kann. In diesem Zusammenhang ging Prof. Vöpel am Schluss des Expertendialogs bei- spielhaft auf das Projekt "Hammerbrooklyn", ein Labor für digitale Themen, ein. Er führte weiter aus, dass sich zentral in der Stadt eta- blierte Unternehmen, aber auch Start-ups, WissenschaftlerInnen und die Kreativszene auf eine neue Art vernetzen werden, um sich interdisziplinär an die Fragen der Zukunft von Mobilität zu machen, den Forschungsbedarf zu bündeln und Expertise für die Politik zu liefern.
Den letzten inhaltlichen Programmpunkt bildete die Podiumsdiskussion zwischen (inter-) nationalen Gästen zu aktuellen Anforderungen eines beschleunigten Digitalisierungsprozesses an die Verkehrsplanung und –politik. Die PodiumsdiskuntantInnen waren Prof. Alexander Eisenkopf, Lilian Meyer (ÖBB),
Prof. Laurent Guihéry (Université de Cergy Pontoise), Prof. Florian Heinitz (FH Erfurt) und Prof. Michael Ortgiese (DLR). Zunächst bat Podiumsdikussionleiter Prof. Gernot Liedtke in einer kurzen Vorstellungsrunde die TeilnehmerInnen ihre Sicht auf die Bedeutung von Digitalisierung unter aktuellen Bedingungen wiederzugeben. Die darauf folgende Diskussion brachte einen Konsens darüber hervor, dass Mobilität und Digitalisierung unter den Bedingungen der globalen Pandemie neu gedacht werden müssen. Deutlich wurde ein großer Diskussionsbedarf über den „halbstaatlichen“ Verkehr. Hier war man sich einig, dass die Regulierung keinesfalls zu früh ansetzen sollte, da sich ein ziemlich schmaler Grat zwischen Experimentieren und Regulieren abzeichne. Daraus ergaben sich folgende Botschaften, die Herr Liedtke am Ende der Diskussion zusammenfasste: Wettbewerb muss in allen Mobilitätsbereichen möglich sein, die nachhaltige Finanzierung des ÖPNV muss auch weiter gesichert sein und es muss frische Luft in die Regionalisierungspläne gelassen werden.
Die im Fachkongress aufgegriffenen Themen werden Wissenschaft und Politik definitiv noch weiter begleiten. Vielen Digitalisierungsprojekten ist die Luft ausgegangen, aber es wird weitergehen. Nichtzielführende Ideen werden, beschleunigt durch die aktuelle Pandemie, ausgesiebt, sodass sich der normale Evolutionsprozess fortsetzen wird, so Prof. Liedtke in seinen abschließenden Worten. In einer offenen und branchenübergreifenden Diskussion in der Fachcommunity wurden konkrete Maßnahmen und Projekte vor- gestellt, die einer beschleunigten Digitalisierung im Mobilitätssektor, und damit letztendlich dem Gemeinwohl dienen und wichtige Impulse für die verkehrspolitische Umsetzung darstellen.